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Eine Gruppe von deutschen Einwanderern evangelischen Glaubens traf am 3. Mai 1824 in Nova Friburgo, Bundesland Rio de Janeiro, und eine andere Gruppe am 25. Juli 1824 in São Leopoldo, Bundesland Rio Grande do Sul, ein. Diese bildeten die ersten Gemeinden von all denen, die heute zur Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (IECLB) gehören. Weitere Schübe von Einwanderern folgten. Die evangelischen Einwanderer verschiedener Nationaltäten waren zur Mehrzahl Lutheraner, aber es gab unter ihnen auch Reformierte (Calvinisten) und Unierte. In den Einwanderungsgebieten sind Gemeinden entstanden, und später bildeten sich Synoden mit je eigenem Profil. Erst im Lauf von vielen Jahren, in Wirklichkeit nach mehr als einem Jahrhundert, entwickelten und definierten diese evangelischen Gemeinden ihre theologische und kirchliche Identität im Sinne des lutherischen Bekenntnisses. Sie bildeten auch eine Kirche auf Bundesebene, die IECLB, und das geschah durch die Gründung des Bundes der Synoden im Jahr 1949, deren Unterbezeichnung als Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien später (1968) zum Namen der Kirche wurde, wie er bis in unsere Tage gilt.

Im Rückblick auf die 180-jährige Geschichte, die seit jenen ersten Gemeinden vergangen ist, konstatieren, erkennen und betonen wir:


Unsere Dankbarkeit

Trotz unzähliger Schwierigkeiten und nicht erfüllter Versprechungen seitens der kaiserlichen Regierungstellen haben jene Einwanderer, Männer und Frauen mit ihren Familie, und später deren Nachkommen Gemeinden aufgebaut, deren Kennzeichen die gegenseitige Hilfe war. An den meisten Orten haben die Siedler unter schwierigen Umständen doch eine blühende Wirtschaft in Gang gebracht, indem auf den kleinen bäuerlichen Anwesen die Grundnahrungsmittel für die Bevölkerung erzeugt wurden. Handwerker und Händler, kleine Unternehmer und Industrielle gaben zuerst den Landgemeinden und später den Städten, vor allem im Süden des Landes sowie in Espírito Santo, ein besonderes Gesicht, das durch die kulturellen Werte, die Arbeitsethik, die Betonung der Schulerziehung und nicht zuletzt die Wertschätzung der Kirche gekennzeichnet war. Da der Staat in den verschiedensten Bereichen abwesend blieb, z. B. was die Schulerziehunge und die Gesundheitsfürsorge betraf, haben die Einwanderer durch Selbsthilfe florierende Organisationen geschaffen. Durch diese Initiativen haben sie entscheidend zu einer besser ausgeglichenen Entwicklung der Wirtschaft unseres Landes beigetragen.
Dankbar sind wir vor allem für das kirchliche und theologische Erbe. Es bildeten sich Glaubensgemeinden. Kirche und Schule gingen Hand in Hand. Jene Einwanderer und ihre Nachkommen blieben dem evangelischen Glauben treu und haben ihn an ihre Kinder weitergegeben. Wenn weder Pfarrer noch Lehrer vorhanden waren, wählten sie aus ihren eigenen Reihen jemanden, der am besten die nötigen Dienste übernehmen könnte. Sie pflegten und entwickelten einen Geist der Nüchternheit in religiösen Fragen und respektierten andere Glaubensrichtungen. In ihrer Lebensweise praktizierten sie die herrliche Gabe der christlichen Freiheit. Die Bibel, der Katechismus, vor allem Luthers Kleiner Katechismus, der Gesang und das Gebet dienten ihnen als Glaubensnahrung.

Die Familie und das Vereinswesen hatten einen hohen Stellenwert in den Gemeinden. Sie beibehielten zwar zum grossen Teil ihre kulturellen Traditionen, zum Beispiel den Stil ihrer Häuser, die Essgewohnheiten, die Kleidung, ihre Feste und nicht zuletzt ihre Sprache; aber sie verstanden sich gleichzeitig als BügerInnen dieses Landes, das sie sowie auch andere Einwanderungskontingente aufgenommen hatte, und als solche leisteten sie ihren Beitrag zum Wohlergehen und zum Fortschritt der neuen Heimat. In der Zeit der beiden Weltkriege litten sie eine Identitätskrise. Als Opfer eines verschärften Nationalismus wurden sie mit Verdacht beobachtet und litten mancherlei Diskriminierung. Aber sie haben diese schmerzhafte Erfahrung überwunden und gingen daraus hervor gestärkt in ihrer Überzeugung und Haltung als Bürger und Glieder des brasilisnischen Volkes, die sich mit diesem Land verpflichtet wissen.

Als Kirche sind wir dankbar auch für den Austausch und die Hilfe, die sich im Lauf der Zeit infolge der Beziehungen mit Kirchen und Missionsgesellschaften in Deutschland, dem Herkunftsland der meisten Einwanderer, und in jüngerer Zeit auch mit Organisationen anderer Länder ergeben haben. Diese Beziehungen und diese Hilfen waren ein wichtiger Beitrag für die organisatorische Gestaltung einer Kirche, die in ihrem Konzept offen ist für die ökumenische Kooperation und für den Austausch zwischen Kirchen verschiedener Länder. Die IECLB entwickelt sich mehr und mehr zu einer multikulturellen und miltiethnischen Grösse, die sich für eine mitverantwortliche Staatsbürgerschaft und für den zivilen Gemeinschaftsgeist engagiert, auch wenn dieser Prozess hier und da länger dauert, infolge des nachwirkenden kulturellen Erbes und auch weil wir bewusst auf proselytistische Praktiken verzichten.

Unsere Schuld

Obwohl die schlichten Einwanderer der damaligen Zeit sich der nun im Rückblick geschilderten Wirklichkeit nicht bewusst sein konnten, ist es doch eine Tatsache, dass sie mit ihrer Ankunft in Brasilien in mancherlei Hinsicht einen sozialen Platz besetzten, der den indigenen Gemeinden, den ursprünglichen Besitzern der Ländereien, sowie den Negergemeinden des sklavenhandelnden Kolonial- und Kaiserreichs Brasilien hätte gehören können und sollen. Von emblematischer Bedeutung ist, dass die ersten Familien deutscher Einwanderrer, bei ihrer Ankunft in São Leopoldo, in einer ehemaligen Sklavenfaktorei untergebracht wurden.

Die Gemeinden, die sich hier entwickelt haben, sind also, wenn auch unfreiwillig, ein Teil der Geschichte der Ungerechtigkeit und des sozialen Ungleichgewichts unseres Landes. Und trotz der Diskriminierung, die sie selbst erlitten, haben die Gemeinden der Einwanderer, im Vergleich zu den Gemeinden der Indianer und der Schwarzen, einen privilegierten Platz in der brasilianischen Gesellschaft bekommen. Kolonisationsprojekte, die durch den Staat vorangetrieben wurden, haben Bauern Ländereien erteilt oder verkauft, die von Indianern bewohnt waren, und diese Tatsache ist die Hauptursache von ernsten Spannungen und Konflikten, die noch heute akut werden zwischen indigenen Völkern und Bauern, darunter auch Glieder der IECLB.
Auch muss anerkannt werden, dass sich an vielen Orten unter Gliedern unserer Kirche ein Gefühl der kulturellen Superiorität über andere Ethnien/Völkerschaften, insbesondere die der Indianer und Afrobrasilianer, entwickelt hat und verbreitet wurde. Wir sind noch heute sowohl Opfer wie auch Urheber von Vorurteilen gegen solche, die anders sind. Das lässt sich auch in den neuen Siedlungsgebieten beoabchten, wohin viele von unseren Gemeindgliedern durch den Strom der Binnenwanderungen verschlagen wurden. In diesem Jahr, da die jüdische Gemeinde der 100 Jahre seit ihrer Einwanderung in das Bundesland Rio Grande do Sul gedenkt, anerkennen wir mit tiefem Bedauern, dass in der Zeit, als in Deutschland der Nationalsozialimus an der Macht war, wir nicht ganz immun blieben gegen Einflüsse der Ideologie der Superiorität der arianischen Rasse.

Im Leben unserer Gemeinden hat oft ein oberflächlichler Traditionalismus die notwendige Vertiefung der Glaubensfragen erstickt. Der Gebrauch der Bibel wurde weithin eingeschränkt auf den Gottesdienst und den Konfirmandenunterricht, ohne als die tägliche Quelle für die Andacht in der Familie benutzt zu werden. Der geistliche Auftrag der Evangelisation wurde fast völlig an die Pfarrer und Pfarrerinnen abgetreten und nicht mehr als Verwantwortung der Gemeinde selbst und aller ihrer Glieder, als Teilhaber am Priestertum aller Gläubigen, verstanden. Für diese Verfehlungen bedürfen wir der Vergebung Gottes und all derer, an denen wir schuldig geworden sind.

Neu Verpflichtung

Angesichts dieser Wirklichkeit wollen wir einerseits diejenigen Werte neu betonen, für die wir dankbar sind, und uns anderseits zu einer Lebenspraxis verpflichten, um jene Aspekte zu überwinden, in Bezug auf die wir unsere Schuld bekannt haben. Auf der 18. Kirchenversammlung – Pelotas/RS, 1992 – hatten wir herausgestellt, dass es vor Gott kein Rassenprivileg gibt – Deus não é racista, so hiess es damals – und dass wir deshalb in uns und unter uns jegliche Art von Rassenvorurteil überwinden müssen. Mit der Barmer Erklärung haben 1934 bekennende Christen in Deutschland der staatlichen Einmischung in das kirchliche Leben Widerstand geleistet; nach 70 Jahren erklären wir uns heute voll solidarisch mit den theologischen Konzepten dieser Erklärung. Indem wir die Souveränität Gottes anerkennen, wie Jesus Christus sie uns offenbart hat, anerkennen wir keinerlei andere Autorität über uns als allein die des Gottes der Liebe. Also können wir keinen Wertunterschied zwischen den Menschen machen, die alle nach Gottes Ebenbild geschaffen sind und für die Jesus Christus sich hingegeben hat. Wir betonen die Notwendigkeit, die ganze kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt bedingungslos, grundsätzlich, einschränkungslos zu respektieren. Wir verpflichten uns insbesondere

– für den Einsatz für den Frieden, die Gerechtigkeit und die Integrität /Bewahrung / der Schöpfung;

– für eine Lebenspraxis in der Gemeinde, in der Mission und in der Diakonie zugunsten der sozialen Eingliederung und für die Überwindung jeglicher Art von Ausgliederung;

– für eine intensivere Beteiligung an der öffentlichen Verantwortung, für die Überwindung von Armut und Misere als Beitrag dafür, dass Brasilien ein Land mit mehr Gerechtigkeit und Solidarität werde;

– für die Verbindung unseres ökumenischen Engagements mit unserer Missionsaufgabe, indem wir furchtlos Rechenschaft geben über die evangelische Basis der Hoffnung, die in uns ist, angesichts der Herausforderungen in der heutigen Wirklichkeit, indem wir gleichzeitig die Vielfalt der religiösen Optionen uneingeschränkt respektieren.

Wir bitten den Gott der Gnade, dass er unseren Dank annehme, das er milde sei in Bezug auf unsere Schuld und dass er uns zu der neuen Verpflichtung seinen Beistand gebe.

24. Kirchenversaammlung der IECLB
São Leopoldo, den 16. Oktober 2004